Magnolia

Ich stehe vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Die grüne Hecke, die hier Jahrzehnte lang gewachsen ist, musste einem Metallzaun weichen. Opa hat keine Lust mehr die Hecke zu trimmen, Mama auch nicht. Aber die Magnolie steht noch da, wo sie vor über 50 Jahren gepflanzt worden ist. Früher konnte ich von meinem Fenster aus beobachten, wie sich die kleinen Knospen langsam den Weg nach draußen bahnen, wie aus ihnen kleine Blütenblätter keimen, aus Blüten ganze Blumen werden und das Rosa immer intensiver wird, wie die Blütenblätter irgendwann einfach abfallen, als hätten sie keine Kraft mehr. Ein Ast war so weit zu meinem Fenster gewachsen, dass wir ihn irgendwann absägen mussten, damit er bei Gewittern nicht in die Scheibe kracht. Ich stehe hier vor dem Haus und betrachte die Magnolie. Es ist irgendwann im Januar, 19 Uhr und schon viel zu lang dunkel. Den ganzen Tag habe ich drinnen gesessen, versucht irgendwas aus meinen Gedanken zu bauen, eine Struktur, eine Linie, irgendwas gerades, aber rausgekommen ist ein nur noch größerer Haufen Gedanken. Ich habe mich angezogen und den Schal tief ins Gesicht gezogen, bin eine Runde um den Block gelaufen und habe versucht, die neu erdachten Haufen wenigstens voneinander zu trennen. 

Das ist ein großer Ich-Haufen, mit mir, meinen Emotionen, meinen Ängsten, meinen selbsterdachten Szenarien, die verteufelten, selbsterdachten Fakeszenarien. Man, die hass' ich am meisten. Der andere Haufen Gedanken handelt von den anderen, den Menschen, die ich liebe, mal geliebt habe, nicht aufhören kann zu lieben und all die verdammten, selbsterdachten Fakeszenarien. An der frischen Luft, habe ich gedacht, kann ich die Haufen ein bisschen aufdröseln, alle Fakeszenarien in die eine Ecke, am liebsten die aller hinterste Ecke, meines Kopfes schieben, den Rest ein bisschen nach links und rechts tragen, sie von einander trennen und klar strukturieren, was hier eigentlich gerade wirklich wichtig ist und was warten kann. Stattdessen stehe ich seit einer geschlagenen halben Stunde vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin und starre eine 50 Jahre alte Magnolie an. 

Das mit den Fakeszenarien ist übrigens so eine Sache. Sie kommen meistens unbewusst in die Gedanken geschlichen, nisten sich ein und fühlen sich ganz plötzlich an, als wären sie schon immer da gewesen, als wären sie real. Gut tarnen können sie sich nicht, sind schon fast auffällig unauffällig in schwarz gekleidet, tragen eine Strummaske und eine kleine Pistole in der Innentasche ihrer Jacken versteckt. Ganz objektiv kann ich sie also erkennen, die kleinen Ganoven. Ganz objektiv kann ich sie enttarnen und weiß, dass sie nichts anderes wollen, als die guten Gedanken an die Wand zu drängen, aus ihnen ängstliche Gedanken zu machen und sie als Geiseln zu nehmen. Ich weiß auch ganz objektiv gesehen, dass sie absoluter Schwachsinn sind, sie nur in meinem Kopf existieren und niemandem wehtun können, nur mir halt. Und bleibe ich bei dieser unfassbar bescheuerten Metapher, dann weiß ich auch, dass ich sie umzingeln und festnehmen kann, sie in eine kleine extra Zelle meines Gehirns verfrachten und sie da verrotten lassen werde. Nur leider weiß ich auch, dass sie immer da drin sind, weggeschlossen und handlungsunfähig, aber durch die Gitterstäbe immer noch hörbar. Kennt jemand gute Schallisolierer:innen?

Ich sitze auf meinem, ehrlich gesagt viel zu ungemütlichen, Schreibtischstuhl in meiner Hamburger Wohnung und denke an die Magnolie vor dem Haus, in dem ich 21 Jahre lang aufgewachsen, groß geworden, so was in der Art wie erwachsen geworden bin und ich vermisse sie und das Haus. Vielleicht hat das Starren und das Gedanken Wegsortieren doch ein kleines bisschen geholfen. Ich glaube, ich sollte wieder öfter da stehen und denken.


Mood